Die Kohärenz der Unmenschlichkeit
Ein Text über die Abwehr von Long Covid als sozialpolitischer Frage, die Moral der Pandemiepolitik, die Niederlage der instrumentellen Vernunft und die Aufgaben einer humanen Gegenrationalität.
Ist vom Beklatschen der Pflegekräfte und anderen Systemrelevanten zu Beginn der Pandemie noch etwas übrig? Ja, heute werden die Helden von damals immerhin noch abgewatscht. In Österreich sprach nun der Oberste Gerichtshof ein wegweisendes Urteil: An Long Covid erkrankte Menschen, die sich in der Arbeit infiziert haben, haben keinen Anspruch auf eine Versehrtenrente, die die Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit ausgleichen könnte. Dem vorausgegangen war eine gegen die österreichische Pensionsversicherungsanstalt gerichtete Klage einer Long-Covid-Patientin, die sich 2020 während ihrer Arbeit als Landesbedienstete im Sanitätsstab angesteckt hatte. Mit solchen Entscheidungen, aber auch mit der Abschaffung der flächendeckenden kostenlosen Coronatests – der Nachweis von Long Covid wird zu einem Glücksfall, den man sich leisten können muss – spannt der Sozialstaat ein umfassendes Sicherungsnetz. Es schirmt ihn gegen Betroffene ab. Alles deutet darauf hin, dass Long Covid als sozialpolitische Frage öffentlich nicht anerkannt werden soll. Umso besser gelingt das, wenn Long-Covid-Patienten als unnötiger Ballast für Volkswirtschaft und Gesundheitssystem „anerkannt“ werden. Berichte darüber, dass der Rekordkrankenstand 2023 das Wirtschaftswachstum bremse, werden durch Kommentare ergänzt, dass viele der angeblich nur angeblich Kranken doch eigentlich arbeiten könnten (etwa im „Handelsblatt“); auch wenn Studien eine Zunahme des Präsentismus in den letzten Jahren beschreiben. Und in einem Artikel der Stuttgarter Zeitung, in dem Betroffenen implizit geraten wird, sich nicht gegen die Psychosomatisierung und Psychologisierung ihrer Erkrankung zu wehren, heißt es: „Eindeutig ist dagegen die Belastung des Gesundheitssystems. Long-Covid-Patient*innen gehen ausweislich der AOK-Daten sechsmal häufiger zum Lungenfacharzt, dreimal so oft zum Kardiologen und fast doppelt so oft zum Hausarzt.“ Wer sich mit den monetären Anreizen auseinandergesetzt hat, die in der Vergangenheit bei der Psychosomatisierung der Myalgischen Enzephalomyelitis (ME/CFS) eine Rolle spielten, hört bei ähnlichen Versuchen im Zusammenhang mit Long Covid zumindest genau hin. Die Überbetonung von möglicher psychischer Genese von Long Covid jedenfalls kommt den Bedürfnissen einer Gesellschaft entgegen, welche sich ihre Funktionalität nicht durch Angst vor dieser Erkrankung einschränken lassen darf. Hinweise auf Viruspersistenz im Körper, Störungen des Komplementsystems oder neuronale Entzündungen stellen das herrschende Laissez-faire eher infrage. Warum aber können auch dezidiert Linke der Psychosomatisierung intuitiv etwas abgewinnen? Es könnte damit zu tun haben, dass der große Fortschritt durch das Fach psychosomatische Medizin – die Entstigmatisierung von Krankheiten mit psychogener Komponente gehört sicher dazu – unbewusst essenzialisiert wird. Kein Geheimnis ist, wie stark Long-Covid-Patient*innen mitunter unter Stigmatisierung leiden. Doch sollte eines nicht übersehen werden: Eine Entstigmatisierung könnte, solange die bewusste Mehrfachdurchseuchung nicht ergänzend skandalisiert wird, auch zu einer zusätzlich müheloseren Verdrängung der Erkrankung Long Covid aus dem öffentlichen Bewusstsein führen. Das Stigma verschwindet, indem es mitsamt Betroffenen verdrängt wird. Von der Entstigmatisierung bliebe dann nur übrig: Alles halb so wild. Ein Argument (das zugegeben eher in die Psychosomatik projiziert wird, als dass es von ihr selbst kommt) lautet, dass die Angst vor Long Covid die Entstehung von Long Covid begünstige. Es ist ja durchaus möglich, dass sie neben der Fähigkeit von SARS-CoV-2, alle menschlichen Organe einschließlich des Gehirns zu befallen, eine kleine Rolle spielt. So gesehen werden Verharmlosung und Verdrängung in einer Gesellschaft, die sich aktiv gegen jeglichen Infektionsschutz entschieden hat, zur einzig möglichen Prävention. Vielleicht ist das mit ein Grund dafür, warum daran, dass Ignoranz gegenüber den Gefahren von SARS-CoV-2 als Ausdruck unbestechlicher Rationalität erscheint, kaum mehr zu rütteln ist.
Die autoritäre Politik der Lockdowns sei nur ein Vorgeschmack darauf, was uns im Namen des Kampfes gegen den Klimawandel noch drohe – so „warnten“ Rechte zu Beginn der Pandemie. Eher verlangte die herrschende Pandemiepolitik den Menschen effektiv eine Einübung darin ab, jede künftige Einschränkung zu ihrem Wohl als größte Zumutung zu sehen. (Ich bleibe dabei: Eine Maske hie und da ist unter den gegebenen Bedingungen Einschränkung und Mittel der Freiheit.) Eine weitere Verbindung der Problemfelder Pandemie und Klimawandel, neben dem kapitalistischen Agrarsystem mit all seinen „Problemfeldern“ als gemeinsame Grundlage, zeigt sich, wenn man den Worten Maria van Kerkhoves lauscht, der Corona-Spezialistin der WHO: „Wir befinden uns immer noch in einer Pandemie. Auf individueller Ebene herrscht große Bequemlichkeit, und noch besorgniserregender ist für mich die auf Regierungsebene. (…) Lassen Sie sich testen, damit Sie die richtige Behandlung erhalten. Tragen Sie Masken, wenn Sie sich an überfüllten Orten aufhalten. Wenn Sie in der Nähe älterer Menschen sind, testen Sie sich selbst, bevor Sie losfahren; verwenden Sie einen Selbsttest – solche Dinge. Aber das reicht nicht. Regierungen müssen Tests bereitstellen, und diese Tests müssen entweder zu einem reduzierten Preis oder kostenlos verfügbar sein. Masken müssen vorhanden sein. Wenn ich sage: „Machen Sie einen Test“, wo bekommen Sie dann einen? Können Sie sich einen leisten? Wenn ich sage: „Stellen Sie sicher, dass Sie sich behandeln lassen“, wo bekommen Sie das?“ Es ist nicht falsch, sich dabei an die hundertste vorgetragene Warnung von Klimawissenschaftler*innen, die ihre Befürchtungen dauernd als zu harmlos revidieren müssen, erinnert zu fühlen. An das Gefühl, die Expert*innen stünden kurz davor, aus ihren Daten wissenschaftlich einwandfrei die Notwendigkeit eines ganz anderen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das ohne selbstzweckhaftes Wachstum und Unterwerfung der Menschen auskäme, abzuleiten. Und an die kühle Entgegnung der sehr beherrschten herrschenden Klasse: Aber wir sind doch schon dabei, die Steigerungsrate der Treibhausgasemissionen zu reduzieren, auf lange Sicht werden wir außerdem die eine umweltschädliche Form der Energiegewinnung durch die andere ersetzen. Kurioserweise könnte es gerade diese absolute Zusammenhangslosigkeit zwischen dem sein, was zu tun wäre, und dem, was getan wird, die den meisten Menschen die Aufrechterhaltung von Realitätsideologisierung und Normalitätssimulation erst ermöglicht. Die volle Fokussierung auf Ausweglosigkeit erscheint als letzte Rettungstür. Wären z.B. noch die geringsten, in den Alltag leicht zu integrierenden Infektionsschutzmaßnahmen in Kraft, würden sich vermutlich doch noch einige die Frage stellen: „Aber sollten wir nicht – wenn schon – alles tun, die Vulnerablen zu schützen?“ Mit der Abschaffung aller Maßnahmen aber ist ein neuer Standard gesetzt, der eine alles erdrückende Realität erschafft. Sie zu akzeptieren, kostet einiges an Überwindung. Die Erleichterung über die vollzogene Überwindung allerdings erleichtert auch die Selbstbelohnung, mit der neuen Normalität der Abschaffung von Public Health, tief und echt empfunden, komplett einverstanden zu sein. Somit ist es in der aktuellen Situation einfacher, sich die Gefährdung der Alten und Schwachen schönzureden, als es bei relativ geringerer Gefährdung der Fall wäre. Auch hier wieder: In der konsequenten Leugnung und Verdrängung – sogar gegen betriebs- und volkswirtschaftliche Vernunft – liegt eine bestialische Rationalität.
Angesichts der Versuche, die notwendige Revitalisierung der Kapitalakkumulation durch Transformation hin zur Green Economy als Beitrag zur Rettung der Welt zu zeichnen, schrieb Rainer Trampert in der Jungle World: „Dinge werden mit Moral angereichert, während der Mensch in Ungnade fällt.“ Vor Moral trieft auch die übliche öffentliche Pandemienachbetrachtung, von der der Mensch aber gerade deswegen fallen gelassen wird, weil sie gnädig mit seinen falschen Wünschen und Bedürfnissen ist. Nie wieder, heißt es da, sollen die Abiturprüfungen verschoben werden, nie wieder sollen Automobilwerke kurzfristig schließen müssen, nie wieder sollen Flugzeugpassagierzahlen sinken, denn was zählt ist der Mensch. Bei dieser Nachbetrachtung werden die Probleme von Menschen, die sich vor dem Besuch des minderheitenfeindlichen Kabaretts schnelltesten mussten, in den Fokus gerückt, während die Probleme und Interessen von alten an COVID-19 erkrankten Menschen, die z.B. in Schweden mit Morphium in den Tod gespritzt wurden, eher nicht vorkommen. Man muss sich das einmal vorstellen, hätte ich nun fast geschrieben, aber man könnte sich so etwas nie vorstellen, nur beobachten: Die gesellschaftliche Stimmung scheint nun derart zu sein, dass Politiker es nicht einmal wagen, sich die Abschwächung der Pandemie als nationale Erfolgsstory und Meisterleistung gutschreiben zu lassen. Nicht einmal einen falschen Stolz auf die Bewältigung der Krise gibt es, nur Reue über überschießende Maßnahmen. Wahlen werden mit dem Versprechen gewonnen, aus den alten Fehlern gelernt zu haben, in Zukunft mehr davon zu machen, und bei der nächsten Pandemie nicht so zimperlich mit den Alten und Kranken umzugehen. Taugte Moral nicht sonst eher zur Widerlegung der These, der Mensch sei im herrschenden Wirtschaftssystem nur ein Durchgangsstadium der Akkumulation abstrakten Reichtums, indem sie das Überleben des Schönen und Wahren in der Gesellschaft ständig zu beweisen schaffte? Offenbar hat sich die Notwendigkeit dieser Beweisführung überlebt. Die genannte These muss schließlich nicht mehr abgewehrt werden, da ihr Inhalt als Wahlspruch übernommen ist. Moral ermöglichte es den Einzelnen, sich mit großer Willenskraft ideell gegen die Verdinglichung zu stemmen. Heute ahndet sie alle Versuche, die gefälligst organische Bindung des Menschen an kapitalistische Zweckrationalität anzugreifen. Der Autor ist nach diesen langwierigen Schilderungen ein konkretes Beispiel aus dem Alltag schuldig. Wird bei der nächsten Industriemesse die Spionagedrohne „absentism spoiler 400“, die bei Menschen im Krankenstand heimlich vorstellig wird, mit den Worten: „Was für ein unfassbarer Vorteil im Standortwettbewerb, der schließlich uns allen zugutekommt“ vorgestellt; oder wird bei einer Pressekonferenz erläutert: „Nun konnten wir endlich, nach Bitten von allen Seiten, eine Reduzierung der Sicherheitsstandards für das Arbeiten mit gefährlichen Chemikalien erreichen“, so wird man ganz richtig behaupten können: „Ui, da menschelt es aber!“ In der Moral konnte Hoffnung auf eine bessere Welt Unterschlupf suchen. Ja, die Hoffnung war dort zwar auch sicher verwahrt, auf dass sie sich nicht erfülle, aber immerhin noch gut aufgehoben. Das ist etwas ganz anderes als die Aufhebung der Hoffnung, die wir heute beobachten müssen. Die prekäre Doppelfunktion der Moral, nämlich die schlechte Welt vor konsequenter Hoffnung zu schützen, aber dafür auch die Hoffnung zu schützen, ist vorläufig Geschichte. Unter solchen Umständen kann eine Äußerung wie: „Ach, meine liebe alte Nachbarin könnte noch leben, wenn es strengere Gesundheitsschutzmaßnahmen gegeben hätte“ nicht einmal mehr als Moralisieren gelten, sondern als Ausdruck linksradikalen Wahns.
Ein Artikel zur Pandemiesituation in einer linken Zeitung soll nicht ohne Verweis auf die neuesten wissenschaftlich-medizinischen Erkenntnisse auskommen. In bürgerlichen Zeitungen wird auf diese zwar immer wieder hingewiesen, aber man muss entsprechende Berichte zwischen Meldungen, dass die zunehmende Gewalt an den Schulen einen Nachholeffekt aus der Zeit der Lockdowns darstelle – dass es also so etwas wie eine „Gewaltschuld“ gebe –, oder dass der Anstieg der Syphilisfälle mit den Pandemiemaßnahmen zu tun habe, suchen. Erst kürzlich veröffentlichten die renommierten SARS-CoV-2-Forscher Ziyad Al-Ali und Eric Topol einen Artikel in der Zeitschrift „Science“ mit dem Titel „Solving the puzzle of Long Covid“ („Das Rätsel um Long Covid lösen“). Zunächst halten sie fest, dass es sich bei Long Covid um eine komplexe, nichtmonolithische, multisystemische Erkrankung mit möglichen Folgen in nahezu allen Organsystemen handelt. Ziyad Al-Ali und Eric Topol zufolge weist Long Covid verschiedene Subtypen auf, mit je unterschiedlichen Risikofaktoren, biologischen Mechanismen und Behandlungsoptionen. Die biologischen Mechanismen fassen sie so zusammen: Persistenz des Virus oder seiner Bestandteile in Gewebereservoirs; Autoimmun- oder eine unkontrollierte, fehlgeleitete Immunantwort; mitochondriale Dysfunktion; vaskuläre (endotheliale) und/oder neuronale Entzündung; Mikrobiom-Dysbiose. Bei Menschen mit einer schweren COVID-19-Erkrankung und einer systemischen akuten Infektion kann es zu einer Replikation des SARS-CoV-2-Virus im pulmonalen und extrapulmonalen Gewebe kommen, weiters zu einer Persistenz der genomischen RNA von SARS-CoV-2 über Monate an mehreren Stellen, zum Beispiel im Gehirn und den Koronararterien; inwiefern dieser Mechanismus zu Long Covid beitragen kann, ist allerdings nicht geklärt. Als sicher gilt, dass SARS-CoV-2 ruhende Viren reaktivieren kann, einschließlich des Epstein-Barr-Virus und des Varizella-Zoster-Virus, sowie zu Darm-Hirn- und neuroendokrinen Dysfunktionen und einer beeinträchtigten Gerinnung führen kann. Das Risiko, Long Covid zu entwickeln, erhöht sich mit jeder weiteren Infektion. Zusätzlich zur prototypischen Form von Long Covid erhöht eine SARS-CoV-2-Infektion das Risiko für viele verschiedene chronische Erkrankungen und führt zu einem Anstieg der Fälle von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, neurologischen Beeinträchtigungen und Autoimmunerkrankungen. Ziyad Al-Ali und Eric Topol belassen es in ihrem Artikel nicht bei der Wiedergabe der medizinischen Fakten, sondern äußern sich politisch. Zum einen beklagen sie einen Trend des „Long Covid denialism“, der ihrer Ansicht nach mit antiwissenschaftlichen und Anti-Impfungs-Bewegungen verbunden ist. Zudem notieren sie ganz klar: „Die Verhinderung von Infektionen und Reinfektionen ist der beste Weg, um Long Covid vorzubeugen, und sollte die Grundlage der öffentlichen Gesundheitspolitik bleiben. Ein größeres Engagement für nicht-pharmazeutische Interventionen, einschließlich Maskentragen, insbesondere in Hochrisikoumgebungen, und verbesserte Luftqualität durch Filterung und Belüftung sind erforderlich. Die Aktualisierung der Bauvorschriften, um eine Eindämmung von Krankheitserregern in der Luft zu fordern und eine sicherere Raumluft zu gewährleisten, sollte mit der gleichen Ernsthaftigkeit behandelt werden wie die Eindämmung von Risiken durch Erdbeben und andere Naturgefahren.“ Ein Jungle-World-Autor muss hier natürlich vorsichtig zu korrigieren wagen: Sie sollte mit der gleichen Ernsthaftigkeit behandelt werden, mit der auch für die Eindämmung von Risiken durch Erdbeben und andere Naturgefahren gesorgt werden sollte. Zu kürzlich veröffentlichten wissenschaftlichen Ergebnissen gehören eine Meta-Analyse verschiedener Studien, bei der sich ein 17-fach erhöhtes Risiko für eine neubeginnende Demenz bei Über-60-Jährigen nach schwerem COVID-19 zeigte (Preprint, The Lancet), eine Studie, die die Beteiligung einer Disruption der Blut-Hirn-Schranke bei kognitiven Problemen infolge einer SARS-CoV-2-Infektion beschreibt (Nature Neuroscience), oder etwa ein Review zu neurologischen Symptomen bei Neugeborenen infolge einer COVID-19-Erkrankung. Der Segen der Covid-Hegemonie zeigt sich auch bei einem kursorischen Überblick über einfache, aktuelle Statistiken: In den USA war im Jahr 2023 die Zahl der Todesfälle, die in Verbindung mit hypertensiven Herzerkrankungen, Rhythmusstörungen, Blutgerinnseln, Diabetes oder Nierenversagen stehen, um 15–28 % höher als erwartet; in Finnland wies 2023 eines von dreizehn Neugeborenen eine Malformation, Deformation oder Chromosomenanomalie auf, wobei die Wachstumsrate solcher Fälle aktuell bei 75 % jährlich liegt – diese Zahlen erinnern an eine brasilianische Studie aus dem Jahr 2023, bei der sich zeigte, dass 10 % der Neugeborenen, die während der Schwangerschaft einer maternalen SARS-CoV-2-Infektion ausgesetzt waren, Auffälligkeiten bei der Schädelsonografie zeigten (International Journal Of Infectious Diseases); im Vereinigten Königreich lag 2023 die Zahl der Menschen, die sich aufgrund chronischer Erkrankung im Zustand der „ökonomischen Inaktivität“ befinden, bei 2,8 Millionen, was einen neuen Rekord sowie eine Erhöhung um 200.000 im Vergleich zum Vorjahr sowie um 700.000 im Vergleich zu 2019 bedeutet. Überlassen wir das ohnmächtige Machtwort – es stammt aus einem Interview mit dem „Spiegel“ – im naturwissenschaftlichen Teil dieses Artikels der Yale-Professorin und Long-Covid-Expertin Akiko Iwasaki: „Ja, ich habe immer noch Angst vor SARS-CoV-2.“
Akiko Iwasakis Empfehlung, in Innenräumen, in denen sich viele Menschen aufhalten, eine Maske zu tragen, wird auf Gesellschaft und Politik keinen großen Einfluss haben. Je deutlicher wird, dass COVID-19 selbst nach Impfung und Teilimmunität durch durchgemachte Infektionen nicht „nur“ wie die Influenza ist – was für eine entsetzliche Verharmlosung der Influenza –, desto widerstandsloser wird SARS-CoV-2 bloß als neuer Mitkonkurrent um die Vorherrschaft unter den Erkältungsviren gezeichnet. Die Politik welcher Staaten man auch untersucht (ja, es gibt Ausnahmen), überall scheint das Motto zu lauten: Wenn schon falsche Politik, dann richtig, und in allen Einzelbereichen. Diese neue Pandemiepolitik, die in der Beendigung der Pandemiepolitik besteht, wirkt in ihrer unerhörten Konsistenz überzeugender als alles zuvor. Impfung? In Deutschland können gesetzlich Krankenversicherte, für die nach der Schutzimpfungs-Richtlinie keine Indikation für eine COVID-19-Impfung vorliegt, die zu impfen ein Arzt aber für medizinisch erforderlich hält, die Kosten der Impfung ab März nicht mehr mit der Krankenkasse verrechnen.[1] Letzte Vorsichtsmaßnahmen für Nichtreiche? Auch die US-amerikanische Seuchenschutzbehörde lässt nun die 5-Tage-Isolationsrichtlinie nach einem positiven SARS-CoV-2-Test fallen; wobei für den Besuch des Weißen Hauses eine 10-Tagesrichtlinie gilt.[2] Maßnahmen gegen krankheitsbedingten Unterrichtsausfall an Schulen? Der Anteil der Schüler im Vereinigten Königreich, die pro Schuljahr 19 Tage oder mehr fehlen („persistent absentee“), liegt nun bei über 20 % im Vergleich zu ca. 10 % vor der Pandemie.[3] Die britische Regierung antwortet mit der Kampagne: „Moments matter, attendance counts“, deren Betitelung man wohl mit: „Schicken Sie Ihr krankes Kind in die Schule, dort wird es gesund“ übersetzen muss. Dank der Kampagne wissen Eltern nun, dass sie Kinder mit leichten Atemwegsinfekten, leichten Erkältungen, Bindehautentzündung und Fadenwürmern in die Schule schicken sollen. (Wie sieht es mit Keuchhusten aus, der sich im UK munter verbreitet?) Aber: „Erbrechen, Durchfall, Windpocken, Impetigo und Scharlach sind (…) akzeptable Gründe für Abwesenheit.“[4] Ausbau des sozialen Schutzes für chronisch erkrankte Menschen? Etwas Ähnliches – Ausbau des Schutzes des Staatshaushaltes vor chronisch erkrankten Menschen – droht nun in Frankreich umgesetzt zu werden; bei der Versorgung von Menschen mit langanhaltenden Erkrankungen (13 Millionen Menschen) sollen sechs Milliarden Euro eingespart werden. Verbesserung der medizinischen Versorgung als Reaktion auf einen insgesamt schlechteren Gesundheitszustand der Bevölkerung? Aber nein. Die österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) arbeitet nun an Plänen, den Zugang zu Fachärzten deutlich zu erschweren. Lehren aus der Pandemie im Umgang mit anderen Infektionskrankheiten? Die in einigen Staaten beobachtbaren Ausbrüche der als ausgerottet geltenden Erkrankung Masern sind womöglich auf eine Übertragung der SARS-CoV-2-Impfskepsis auf die Masernimpfung zurückzuführen; die Masernimpfquoten (z.B. in Österreich[5]) gehen zurück. Im US-Bundesstaat Florida empfahl nun der Sanitätsinspekteur Joseph Lapado, Gefolgsmann des rechtsextremen Gouverneurs Ron DeSantis, nicht gegen die Masern geimpfte Kinder weiterhin in Schulen zu schicken, in denen sich akut Masernausbrüche zutragen.
Auch dieser Artikel neigt dazu, implizit der Politik zu empfehlen, wie sie sich besser um das Wohl des Staates und seiner Wirtschaft kümmern könne. Grundsätzlich ist das einer Linken unwürdig. Schließlich ortet sie ja gerade im selbstzweckhaften Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft eine Mitbedingung nicht nur der Entstehung von Seuchen – durch die Ausbreitung der industriellen Landwirtschaft steigt die Chance für „spillover events“ –, sondern auch eine der Institutionalisierung einer Menschenfeindlichkeit, die solche nett gemeinten Empfehlungen erst recht wieder als wahlweise lächerlich, träumerisch oder gefährlich brandmarkt. Die kapitalistisch-instrumentelle Rationalität ist in vielerlei Hinsicht Geburtshelfer des Wahns, zu dem die Gesellschaften aktuell tendieren. Aber um diesen Grundstock des Wahns wirkungsvoll kritisieren zu können, schadet es sicher nicht, sich damit zu befassen, was gemäß der instrumentellen Vernunft politisch geschehen müsste. Womöglich lässt sich nur daraus eine radikal-humanistische Gegenrationalität destillieren. Auch wenn dieses Destillat aktuell auch aus nicht mehr als aus Fragen bestehen kann: Was bedeutet es, wenn Ableismus und Sozialdarwinismus – weniger theoretisch als ganz einfach praktisch – in Antirassismus, Antisemitismuskritik, Antisexismus und andere gesellschaftlichen Formen der Solidarität mehr und mehr eintröpfeln? Was hat es mit der These auf sich, dass sich der Staat, in der Klima- wie in der Pandemiepolitik, von seiner Rolle als ideeller Gesamtkapitalist mehr und mehr verabschiedet, und eher den bornierten Einzelinteressen mancher Kapitalfraktionen entsprechend handelt (Maximilian Hauer schreibt darüber in seinem großartigen Buch „Seuchenjahre“)? Oder: Was ist von der These eines anonymen Internetkommentators zu halten, die Akzeptanz der Mehrfachdurchseuchung durch von schwerer, unterbezahlter Lohnarbeit gezeichneten Menschen ließe sich auch daraus erklären, dass für viele ein Leben als Langzeiterkrankte mit – wenn überhaupt – geringen staatlichen Zuschüssen insgeheim die letzte Hoffnung darstellt?
[1] https://www.kbv.de/html/1150_67955.php
[2] https://www.whitehouse.gov/visit/
[3] https://researchbriefings.files.parliament.uk/documents/CBP-9710/CBP-9710.pdf
[4] https://www.dailymail.co.uk/health/article-12938183/Has-child-got-sniffles-read-guide-parent-kids-school-kept-home.html
[5] https://www.derstandard.at/story/3000000208158/die-masernimpfung-wirkt-und-ist-sicher-warum-zoegern-eltern-trotzdem