Progressives Sterben
Über die Krise des Gesundheitswesens und progressiv gedeutete Unmenschlichkeit schreibt Paul Schuberth.
Die offizielle Rhetorik des Stolzes auf die gelungene Pandemiebewältigung – bei uns starben weniger als anderswo! –, also auf die ausgeklügelte Balance zwischen Gesundheits- und Wirtschaftsinteressen, ist Geschichte. Stattdessen dominiert, von Seiten des Journalismus wie der Politik, Bedauern wegen überschießender Maßnahmen. Wenn diese noch gerechtfertigt werden, dann selten mit einem Verweis auf das Retten von Menschenleben, öfter auf die Überforderung der Verantwortlichen in der Akutsituation. Dieser Pandemierevisionismus wirkt sich nicht nur auf die Diskussion aus, sondern hat auch konkret materielle Folgen, etwa in Form finanzieller Förderungen für Maßnahmengegner und Verschwörungstheoretiker in Niederösterreich. Liegt hinter dem Phänomen, dass auch konservative und sozialdemokratische Politiker mit „Aufarbeitung“ nur Kritik an vermeintlich übermotivierter Eindämmung des Infektionsgeschehens meinen, etwas Anderes als Angst vor rechten Wahlerfolgen? Zwei Punkte könnten hier wichtig sein. (Wichtig: Ich will hier keineswegs insinuieren, dass der Pandemierevisionismus bewusst eingesetzt wird, um diese oder jene anderweitige Verschlechterung umzusetzen.) Beim US-amerikanischen Evolutionsbiologen und marxistischen Epidemiologen Rob Wallace oder bei der deutschen Virologin Isabella Eckerle ist nachzulesen, was getan werden müsste, um weitere Pandemien zu verhindern. Ob man nun Wallace‘ Zugang, einen radikalen und nachhaltigen Umbau der industrialisierten kapitalistischen Landwirtschaft anzustreben, favorisiert, oder Eckerles eher sozialdemokratische Ideen, die Zoonosen-Hotspots Wildtier-, Fell-, Fleisch- und Milchindustrien einer strengeren Kontrolle zu unterwerfen – beides ist unter den gegebenen Bedingungen kaum umsetzbar. Da also auf tatsächliche Sicherheitsvorkehrungen nicht zurückgegriffen werden kann, ist es rational, zumindest auf ideologische Sicherheitsvorkehrungen zu setzen: Wenn der Bevölkerung durch den Pandemierevisionismus eine Bagatellisierung und Normalisierung des Massensterbens nahegelegt wird, in der Rückschau wie in der Voraussicht, ist die Sicherheit für verantwortliche Politiker größer, bei der nächsten Pandemie nicht wie Wildtiere davongejagt zu werden. In diesem Artikel soll uns aber hauptsächlich der zweite Punkt beschäftigen. Beim Blättern in deutschen, spanischen, englischen oder neuseeländischen Tageszeitungen etc. ist den Meldungen über Krisen des Gesundheitssystems, überfüllte Stationen und mangelnde Versorgung kaum zu entkommen. Die rechte wie linke Freiheitsrhetorik am Höhepunkt der Pandemie hat bewirkt, dass die zumindest implizite Identifikation von höherer eigener Krankheitslast mit Freiheit, sowie von Gesundheitsschutz mit Übergriff keine absolute Ausnahme ist. Nun wird diese Verkehrung auch noch von politischen Autoritäten, die stets die Wissenschaftlichkeit ihrer Entscheidungen betonten, abgesegnet. Das erweitert den Spielraum, bei der Lösung der Gesundheitskrise nicht nur auf bessere Bezahlung für Gesundheitsbedienstete, Aufstockung des Personals, Krankheitsprävention etc. angewiesen zu sein (oder gar auf Bekämpfung eines ökonomischen Systems, in dem Gesundheit nur als Verwertbarkeitsvariable zählt), sondern auch auf brutalere Alternativen setzen zu können. Alternativen, die den sich selbst immer feindlicher werdenden Menschen bald durchaus menschenfreundlich vorkommen könnten.
Es ist alles kein Geheimnis mehr: Studien und Untersuchungen ergeben, dass die zu Beginn und am Höhepunkt der Pandemie durchgeführte Triage in der Praxis behindertenfeindlich war. Im Vereinigten Königreich hatten etwa Menschen mit Down-Syndrom, mit Autismus oder anderen Lernbehinderungen ein wesentlich größeres Risiko, in einer Überlastungssituation der Spitäler mit einer akuten COVID-19-Infektion nicht behandelt zu werden und zu sterben. Maßgeblich dafür waren „Do-Not-Resuscitate“-Anordnungen, welche auch an sich gesunde Menschen, denen wegen ihrer Behinderung allerdings Gebrechlichkeit unterstellt wurde, betreffen konnten. Hinzu kommt das Phänomen der „stillen Triage“, also die an Pflegeheime gerichtete Anordnung seitens der Spitäler, ältere Infizierte nicht zur Behandlung zu schicken. Werden solche „Lösungen“ für Situationen der akuten Überforderung zu Blaupausen für Auswege aus der permanenten Überlastung?
Am Beispiel des früher als vorbildlich gehandelten britischen NHS, dem staatlichen Gesundheitssystem, lässt sich zeigen, was sich hinter den Begriffen wie „Gesundheitskrise“, „Krise der medizinischen Versorgung“ etc. verbirgt. Studien in – des radikalen Marxismus unverdächtigen – britischen Medizinjournalen legen nahe, dass die Austeritätspolitik im UK alleine in den Jahren 2010–2019 zu etwa 300.000 zusätzlichen Todesfällen geführt hat. Das war die Ausgangslage vor der Pandemie, die ab 2020 im Vereinigten Königreich weit über 100.000 Todesopfer forderte und viele Menschen mit Folgeschäden der Infektion und Langzeiterkrankungen zurücklässt. 2024 erhöhte sich die Zahl derer, die aufgrund chronischer Erkrankungen „ökonomisch inaktiv“ sind – wie es in der verdinglichenden Amtssprache heißt –, auf 2,8 Millionen Menschen, was eine Steigerung um 700.000 im Vergleich zu vor der Pandemie bedeutet. Vor fünfzehn Jahren waren es einige wenige Patienten im UK, die zwölf oder mehr Stunden in der Notaufnahme auf eine Behandlung warten mussten; heute sind es Hunderttausende. 55 % aller Krebspatienten können innerhalb von 62 Tagen nach der Überweisung durch den Hausarzt mit ihrer Behandlung beginnen, während es 2010 noch knapp 90 % waren. Das Ergebnis sind laut Guardian 300 bis 500 Todesfälle pro Woche, die mit solchen Verzögerungen in Zusammenhang stehen. Der Mangel an lebensrettenden Medikamenten hat sich in den letzten drei Jahren verdoppelt. Es gibt Berichte, dass Kleinkinder in staatseigenen Heimen an den Folgen von Schimmelexposition versterben. Krankheitsfälle mit Krätze, Skorbut und Rachitis – letztere sind Synonyme für Mangelernährung – nehmen rapide dazu (15–17 % der britischen Haushalte erleben Nahrungsunsicherheit); Ähnliches gilt für Infektionskrankheiten wie Keuchhusten oder Masern, die sowohl für Kleinkinder als auch für Erwachsene gefährlich werden können. Ärzte geben zunehmend und im OECD-Schnitt überdurchschnittlich oft an, sich ausgebrannt zu fühlen; ein Ausdruck dessen war auch der sechstägige Streik der Assistenzärzte im Jänner. Pflegekräfte wandern zunehmend in besser bezahlte Jobs nach Neuseeland oder in die USA aus. In einer Zeitung wie der „Versorgerin“ muss man nicht extra betonen, dass die Gesundheitskrise auch eine Klassenfrage ist. Wie die „British Medical Association“ in einem Thesenpapier angibt, gibt der NHS pro Jahr 2,5 Milliarden Pfund für die Behandlung von Krankheiten aus, die in direktem Zusammenhang mit schlechten Wohnbedingungen stehen. Eine Zahl, nämlich die zum „healthy life expectancy gap“ gehörende – zwanzig Jahre –, traut man sich aus Angst, Vulgärmarxist geschimpft zu werden, kaum niederzuschreiben. Wie gestaltet sich nun der dominierende politische Umgang mit all diesen Umständen? Zugespitzt und zusammengefasst: Dieser Umgang nimmt die Form von ideologischen Propagandakampagnen gegen kranke Menschen an. Schon den Kleinsten muss klar werden: Krankheit darf einen nicht daran hindern, jeden Tag Dinge lernen zu wollen, die man fürs spätere sinnlose und krankmachende Schuften brauchen wird. Nachdem der Anteil der „persistent absentees“ (Schüler, die wegen Krankheit längere Zeit nicht zur Schule kommen) stetig steigt, wurde nun die Initiative „Moments matter, attendance counts“ gestartet. In Broschüren werden Eltern darüber aufgeklärt, mit welchen Erkrankungen sie die Kinder gut und gerne in die Schule schicken sollen. Im Vergleich dazu, in welchem Ausmaß nun kranken Erwachsenen gedroht wird, ist das noch Kinderkram. Premierminister Sunak konstatierte unlängst eine „sick note culture“, eine Kultur der Krankschreibung. Pläne sehen vor, den Hausärzten die Kompetenz der Krankschreibung zu entziehen und sie einem Team von Fachärzten und Arbeitsspezialisten vorzubehalten. Die Regierung spricht sich gegen eine „Übermedikalisierung“ der Herausforderungen des Lebens aus, also gegen eine Pathologisierung. Der Kampf gegen Pathologisierung hätte in einer besseren Welt den Vorteil, Othering gegenüber Menschen mit weniger verwertbaren Fähigkeiten zu verhindern; heute wird Othering in diesem Zusammenhang abgelehnt, um Menschen dazu zu ermuntern, sich wie alle anderen auch dem frühen Tod entgegenzuarbeiten. Unterdessen macht die Meldung die Runde, dass im UK neun von zehn Pflegekräften krank arbeiten gehen. Ob sich durch die wachsende Zahl der Menschen mit Langzeiterkrankungen und Behinderungen nicht eine größere anti-ableistische Solidarität einstellen müsste – alleine diese Frage nur zu stellen, leistet einem Optimismus Vorschub, der sich eigentlich von selbst verbieten sollte.
Die während der Pandemie immer bemühte Direktive, es gehe um die Verhinderung einer Überlastung der Intensivstationen – wodurch die Gesundheit der Einzelnen nicht einmal rhetorisch wichtig genommen werden durfte –, musste Nachwirkungen haben. Dazu gehört, dass es gegen die approbierte Lösung, angesichts der Krise nicht die Krankheits-, sondern die Behandlungslast zu verringern, kaum Widerstand gibt. Solche „Lösungen“ bahnen sich in vielen westlichen Ländern an. Hier eine kurze Auswahl wahllos zusammengestellter Meldungen: In Österreich steht nun zur Debatte, den Zugang zu Facharztterminen zu erschweren. Eine Möglichkeit unter vielen, dem Umstand unbesetzter Kassenstellen bei gleichzeitig wachsender Bevölkerung beizukommen. Wie „Der Standard“ und Ö1 berichten, nahm binnen fünf Jahre der Rückgriff auf freiheitsbeschränkende Maßnahmen in Altenheimen um 60 % zu. In Finnland wird der gesetzlich garantierte Zeitraum, innerhalb dessen eine Behandlung im Rahmen der Primärversorgung stattfinden muss, von 14 Tage auf drei Monate verlängert; Honorare für spezialisierte medizinische Leistungen werden erhöht; der vorgeschriebene Pflegekraftschlüssel wird verschlechtert; der Selbstbehalt bei Medikamenten wird erhöht; das Krankenhausnetz reduziert die Zahl der Notaufnahmen. In Spanien beträgt die Wartezeit auf Facharzttermine mitunter zwei Jahre, in Frankreich sollen sechs Milliarden Euro bei der Versorgung Langzeiterkrankter eingespart werden, in Kanada haben sechs Millionen Menschen keinen Zugang zu einem Hausarzt (family doctor).
Ebenfalls in Kanada startete 2015 das MAID-Programm (Medical Assistance in Dying). Dort lässt sich beobachten, was „die Büchse der Pandora öffnen“, wovor hierzulande Behindertenaktivisten wie die mittlerweile leider verstorbenen Erwin Riess oder Herbert Pichler warnten, in der Praxis bedeutet. 2021 strich dort das Parlament die gesetzliche Anforderung, dass der natürliche Tod einer Person unmittelbar vorhersehbar sein muss, damit diese für die Durchführung eines assistierten Suizids in Frage kommt. Von Bioethikern in Essays genauso gefordert, gibt es nun kein Tabu mehr, Personen, die unter untragbaren Lebensumständen leiden, nicht aber unter einer todbringenden Erkrankung, die Aufnahme in das MAID-Programm zu „gewähren“. 2022 war, mit einem Anteil von 4,1 % an allen Todesfällen, assistierter Suizid bereits die fünfhäufigste Todesursache in Kanada. Dieser Erfolg des Programms wird sich noch steigern; seit März 2024 sind Personen mit psychischen Erkrankungen, darunter solche mit Drogenabhängigkeit, nicht mehr ausgeschlossen. Diese Entscheidungen werden oft mit einer „inklusiven“, progressiven Gleichheitsrhetorik gerechtfertigt.
Man muss nicht einmal leugnen, dass Befürworter dieser Programme die besten Absichten haben könnten – und kann trotzdem anerkennen, dass Programme wie MAID das Töten von Menschen als sozialpolitische Lösung von sozialen und Gesundheitskrisen normalisieren.